Berthold Huber

09.10.2007 "Wir sind im ganz alltäglichen Kapitalismus angekommen" Frankfurter Allgemeine Zeitung 232 vom 06.10.2007

Berthold Huber soll Anfang November neuer IG-Metall-Chef werden. Er sieht keinen Anlass zu lohnpolitischer Bescheidenheit und warnt die Arbeitgeber vor einem Missbrauch der Zeitarbeit.
Auf den Tag genau in einem Monat beginnt der IG-Metall-Kongress, der Sie zum neuen Vorsitzenden küren soll. Ist Ihnen mulmig bei dem Gedanken?

Auf keinen Fall. Ich sehe dem mit Spannung entgegen, aber nicht mit Nervosität. Das wird ein guter Kongress, der die Geschlossenheit der IG Metall zeigen wird, sachlich-inhaltlich wie auch personell.

Die Führungskrise von 2003 soll sich nicht wiederholen. Sind die Grabenkämpfe, die die Organisation vor vier Jahren zu spalten drohten, beendet?

Wir, vor allem Jürgen Peters und ich, haben versucht, die entstandenen Gräben zuzuschütten. Das ist uns ganz gut gelungen. Aber eine monolithische Geschlossenheit wird es auch in Zukunft nicht geben. Es wird Meinungsäußerungen und Kontroversen geben, da bin ich ausdrücklich dafür. Wir brauchen solche Diskussionen. Aber sie müssen offen und fair ausgetragen werden. Eine öffentliche Selbstzerfleischung wird es nicht mehr geben.

Wird man von Ihnen andere Töne zur "Rente mit 67" hören als von Peters?

Keine anderen Töne, aber in der mir eigenen Wortwahl. Die "Rente mit 67" ist der falsche Weg und eine typisch deutsche Lösung: entweder alle oder keiner. Wir haben eine ganz ausdifferenzierte Arbeitsgesellschaft, da muss es unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zur Rente geben. Ich hoffe sehr, dass die Regierungskoalition das akzeptiert und Wege findet, dass die Menschen, die nach 35, 40 Jahren Fließbandarbeit nicht mehr können, früher aussteigen können.

Mit ihren Protesten gegen die Agenda-Politik haben sich die Gewerkschaften den Zugang zur Politik verbaut. Wird es unter Ihnen versöhnlichere Töne geben?

Es bewegt sich ja einiges, zumindest bei einzelnen Parteien, die die Agenda 2010 ins Leben gerufen haben. Ich kann die Initiative von Kurt Beck, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere wieder zu verlängern, nur begrüßen. Das wäre ein Signal auch an die Menschen, die sich durch die Agenda 2010 außerordentlich bedroht sehen. Die Begegnungen mit den Menschen, die davon betroffen sind, haben mich immer deprimiert und angefasst.

Mit dieser Aussage stellen Sie sich gegen Vizekanzler Franz Müntefering, der die Agenda 2010 als richtig verteidigt.

Mir ist egal, auf welcher Seite Sie mich verorten. Ich spreche über Probleme und wie das bei den Menschen ankommt. Nur noch 12 respektive 18 Monate Arbeitslosengeld für Ältere wird von vielen als Bedrohung angesehen. Das muss korrigiert werden. Da ist Kurt Beck auf dem richtigen Weg. Man darf Politik doch nicht so verstehen, dass alles gleich bleiben und wie die Zehn Gebote vor sich hergetragen werden muss. Politik ist ein Prozess, der nie zu Ende ist. Wenn man sieht, dass man Probleme hervorgerufen hat, muss man reagieren.

Aber nicht jetzt! Gerade stellen sich deutliche Erfolge am Arbeitsmarkt ein.

Die Behauptung, die Agenda 2010 hätte den Aufschwung geschaffen und die Beschäftigung der Älteren erhöht, halte ich schlicht und ergreifend für falsch! Sie hat vor allem den Druck auf Arbeitslose erhöht. Nach wie vor fehlen Hunderttausende von Arbeitsplätzen, vor allem für Ältere. Die Gleichsetzung eines 27-Jährigen und eines 59-Jährigen Arbeitslosen ist doch nicht legitim.

Die Linkspartei vertritt die Positionen der Gewerkschaften im Parlament. Doch statt ihr dankbar zu sein, schneiden die Gewerkschaften sie.

Ich grenze niemanden aus. Ich wehre mich nur gegen Versuche, die IG Metall vereinnahmen zu wollen. Wir sind bemüht und interessiert, mit allen Parteien einen Dialog zu führen, und erwarten, dass unsere Meinungen nicht nur angehört, sondern auch ernst genommen werden.

Die IG Metall hat sich lange Zeit gegen Mindestlöhne gesperrt. Ist es klug, den Staat zum Eingriff in die Tarifautonomie zu verleiten?

Die weißen Flecken in der Tariflandschaft haben zugenommen. Dort muss es eine Regulierung geben, damit die Leute nicht mehr ausgebeutet werden.

Doch über den Mindestlohn treten Sie ihre Tarifhoheit an den Staat ab. Wie attraktiv ist eine Gewerkschaft, die ihre Ohnmacht so offen eingesteht?

Nach wie vor regeln wir die Arbeitsbedingungen für die große Mehrheit der Beschäftigten in unserem Organisationsbereich mit unseren Tarifverträgen, die wir eigenständig verhandeln. Auch in unserem Mindestlohn-Konzept hat der Tarifvertrag Vorrang. Gerade deshalb gilt: Es lohnt sich, Mitglied einer Gewerkschaft zu sein. Der rheinische Kapitalismus ist vorbei. Wir sind jetzt im ganz alltäglichen Kapitalismus angekommen. Nur wenn man sich zusammenschließt, kann man etwas erreichen.

Erreichen wollen Sie etwas in der Zeitarbeit: die gleiche Bezahlung von Leiharbeitern und Stammbelegschaften. Dazu bräuchten Sie bloß die Tarifverträge zu kündigen, die von dieser gesetzlichen Vorgabe abweichen.

Wir sind damals dem Irrtum erlegen, Leiharbeit würde nur dazu dienen, Produktionsspitzen abzudecken. Tatsächlich missbrauchen aber etliche Arbeitgeber Leiharbeit heute, um reguläre Beschäftigungsverhältnisse zu ersetzen. Das ist nicht akzeptabel. Der Tarifvorbehalt sollte das Prinzip der gleichen Bezahlung ja nicht aushebeln.

Und deshalb haben Sie Stundenlöhne unter 7,50 Euro vereinbart?

Wir waren konfrontiert mit dem Dumping-Tarifvertrag der christlichen Gewerkschaften! Damit sind doch Fakten geschaffen worden. Deshalb fordern wir: Spätestens nach sechs Wochen müssen Leiharbeitskräfte und Stammbelegschaften gleich bezahlt werden. Wir akzeptieren nicht, dass Arbeitnehmer gegeneinander ausgespielt werden und die einen 40 Prozent weniger verdienen als die anderen. Mit System und Absicht wird das Normalarbeitsverhältnis durch Leiharbeit ersetzt, werden Menschen ausschließlich um des Profits willen entlassen und später zu schlechteren Konditionen wieder eingestellt. Das nenne ich die Menschen und die Arbeitsmarktlage schamlos auszunutzen. Die Leiharbeiter werden nicht einmal von der Pesonalabteilung eingestellt, sondern vom Einkauf. Sie werden behandelt wie Schrauben und Blechteile. Hier muss die Politik handeln.

2008 stehen gleich drei Lohn- und Gehaltsrunden an: In der Stahl-, der Textil- und Bekleidungs- sowie in der Metall- und Elektroindustrie. Wird die IG Metall ähnlich hohe Abschlüsse aushandeln können wie in der vorigen Runde?

Ich sehe jedenfalls keinen Anlass, bescheidener zu werden. Die Unternehmen verdienen satt. Dass die IG Metall in so einer Situation nicht mit einer Forderung in Höhe der Inflationsrate kommt, ist doch selbstverständlich. Aber wir schauen uns die Fakten dann an, wenn die Zeit reif ist.

Bis Juni 2008 müssen Sie sich mit den Arbeitgebern auf einen Vertrag einigen, der den flexiblen Übergang in die Rente ermöglichen soll. Was fordern Sie?

Wir wollen die Förderung der Bundesagentur für Arbeit von Neueinstellungen bei Altersteilzeit erhalten, die Arbeitgeber nicht. Das muss nicht die gleiche Lösung sein wie bisher. Aber wenn Auszubildende übernommen oder aus den Problemgruppen der unter 25-Jährigen oder über 50-Jährigen Leute eingestellt werden, ist die Förderung kein Missbrauch von Beitragsgeldern, sondern ein adäquates Arbeitsmarktinstrument. Und wir wollen, dass die Arbeitnehmer mit 60 in Teilrente gehen und die Arbeitgeber die Abschläge ausgleichen können, steuer- und abgabenfrei wie bei der Altersteilzeit.

Das alles soll jetzt in einem Tarifvertrag geklärt werden?

Erst wenn alle Fragen geklärt sind und die gesetzlichen Rahmenbedingungen vorliegen, können wir mit den Arbeitgebern verhandeln. Ich bin überzeugt, dass wir zu einem guten Ergebnis kommen. Dabei muss klar sein: Ohne finanzielle Aufstockung ist die Altersteilzeit nicht gangbar, und für viele wird die Teilrente auch bei einem Ausgleich der Abschläge nicht reichen, um die finanzielle Lücke zu schließen, die durch den vorzeitigen Ausstieg entsteht.

Durch die Neuverhandlung der "Beschäftigungsbrücke" stehen auch die Übernahmegarantie für Lehrlinge und die Arbeitszeit wieder zur Disposition. Rechnen Sie mit Vorstößen der Arbeitgeber?

Ich will hier dem Nachdenken der Arbeitgeber nicht vorgreifen. Aber ich sage klipp und klar: Wer bestimmte Tarifinhalte aufmacht, muss wissen, dass er damit auch große Konflikte aufmachen kann. Das kann auch nach hinten losgehen.

Zum Beispiel, wenn eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit gefordert würde?

Zum Beispiel. Deshalb sage ich den Arbeitgebern schon jetzt: Verlangt nicht alles, was ihr euch wünscht!

Das Gespräch führte Nico Fickinger.

Letzte Änderung: 21.11.2007