Protest gegen Pläne der CDU

20.10.2003 Auch die Pläne der Opposition im Bundestag zu den Sozialreformen bleiben nicht ohne Gegenrede

Felix Schlindwein, ehem. BR-Vorsitzender BR Siemens Bruchsal und Mitglied
der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft, schreibt dringenden und
aufrüttelnden Brief i.S. Sozialreformen an die Parteivorsitzende der CDU)

Felix Schlindwein
Tel.:07251/948173 Fax:07251/948174
Mobil Tel.:0171/4110398
E-Mail:felix.schlindwein@t-online.de
Internet: http.//www.felix-schlindwein.de

Frau
Dr. Angela Merkel
Vorsitzende der CDU
Klingelhöferstraße 8

10785 Berlin

Ihre Zeichen, Ihre Nachricht vom Unser Zeichen Datum
F.S. 8.10.2003

Sehr geehrte Frau Dr. Merkel,

bevor ich zum eigentlichen Thema komme möchte ich mich kurz vorstellen. Ich bin 62 Jahre alt und bereits Rentner. Während meiner Berufstätigkeit war ich Betriebsratsvorsitzender bei der Firma Siemens in Bruchsal. Ich bin Mitglied der IGM und der CDA. Ich sah und sehe es als mein Mandat an, für die Schwächsten dieser Gesellschaft zu kämpfen, daher bin ich heute noch Mitglied des Koordinierungsausschusses der Arbeitsgemeinschaft christlich- demokratischer Kolleginnen und Kollegen der IG Metall, ferner bin ich ehrenamtlicher Rentenberater der BfA; als solcher muss ich mich täglich mit den Problemen beschäftigen, welche die Veränderungen auf diesem Gebiet in den letzten Jahren mit sich gebracht haben. Mein soziales Engagement ist damit aber noch nicht erschöpft, ich halte Referate auf Betriebsversammlungen und auf Seminaren zu Themen wie: Rente, Altersteilzeit und Vorsorge. Gerade heute war ich in einem Betrieb mit ca. 1000 Beschäftigten um als Berater mit der Personalchefin und dem Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung zur betrieblichen Altersvorsorge auf den Weg zu bringen. Morgen werde ich vor ca. 200 Rentnern des örtlichen Altenwerkes einen Vortrag halten. Am Freitag und Samstag besuche ich eine Tagung der Evangelischen Landeskirche Baden zum Thema "Sozialstaat unter Globalisierungsdruck". Nächste Woche bin ich auf dem Gewerkschaftstag der IGM in Hannover, es wäre schön wenn ich Sie beim Parteienabend, wie in Hamburg, treffen würde, um das nun Folgende Thema mit Ihnen nochmals zu erörtern. Wie Sie sehen, stehe ich in der ersten Reihe einer Front, die von denen, die für die Politik dieses Landes zuständig sind, immer weniger wahrgenommen wird.

Die Nachrichten in Presse, Rundfunk und Fernsehen bereiten mir große Sorgen. Ich kann nicht mehr tatenlos zuzusehen, wie versucht wird, dem "Kleinen Mann" durch die veröffentlichte Meinung ein "X für ein U" vorzumachen.
Wenn ich das Wort Reform höre (und ich muss es zu oft hören), bekomme ich eine "Gänsehaut"; unter anderem steht dieses Wort für "Verbesserung des Bestehenden". Weder im Duden noch in einem anderen Wörterbuch wurde ich fündig, dass es für "Abzocke der Schwächsten" steht, aber dafür wird es immer wieder missbraucht.
Der Bericht der Kommission "Soziale Sicherheit" zur Reform der sozialen Sicherungssysteme macht hier keine Ausnahme. Er unterscheidet sich in den Grundinhalten auch nicht von den Vorschlägen, welche die rot- grüne Regierung mit der Agenda 2010 umsetzen will.
Blatt 2 zum Brief vom 8.10.2003 an Frau Dr. Angela Merkel

Das Ergebnis, sollte es zu einer Umsetzung kommen, ist das selbe. Die schwächsten unserer Gesellschaft: Rentner, Kranke, Arbeitslose und letztendlich die Arbeitnehmer werden die "Zeche" zahlen müssen. Der Schulterschluss mit der Regierung bei der sogenannten "Gesundheitsreform" ist geradezu ein Beispiel, dass nichts, aber auch gar nichts, besser wird, wenn man mit dem "Teufel" tanzt.
Den 76- seitigen Bericht der Kommission "Soziale Sicherheit" habe ich aufmerksam durchgelesen.
Den Vorsitzenden, Bundespräsident a.D. Prof. Dr. Roman Herzog, schätze ich sehr. Seine Berliner Reden haben mir stets gefallen, habe oft Zitate daraus auf Betriebsversammlungen benutzt. Doch mit vielen Teilen des Berichts bin ich nicht einverstanden.

Auf die Punkte im einzelnen kann ich natürlich nicht eingehen, das würde den Rahmen dieses Briefes sprengen, er müsste mindestens ebenfalls 76 Seiten oder mehr haben, und das will ich Ihnen und mir nicht zumuten.
Nur ein Beispiel will ich nennen: "Das Kopfpauschalen- Modell", wie wollen sie den Wählern vermitteln, dass Reiche von den Pauschalen profitieren, die Mittelschicht dagegen draufzahlt, und Millionen Geringverdiener plötzlich abhängig vom Staat werden, abhängig von Kassen, die sie vorher selbst auffüllen müssen.

Haben Sie denn keine Angst vor sozialen Unruhen?

Axel Börsch-Supan, Direktor des Mannheimer Forschungsinstitutes Ökonomie und Demografischer Wandel und Mitglied der Rürup- Kommission schreibt in einem Aufsatz für das Deutsche Institut für Altersvorsorge:
" Der wichtigste Grund für die Einführung der Sozialversicherung war für Reichskanzler Otto von Bismarck die Angst vor sozialen Unruhen".
Warum lernen Sie und Ihre Mitstreiter nicht von der Geschichte?
Die nächste Bundestagswahl kommt bestimmt!
Nochmals Geschichte - wir schreiben das Jahr 1957.
Eindringlich warnte Konrad Adenauer seine skeptischen Minister: Die Wahl sei "schon jetzt verloren", sollte die Rentenreform nicht "rechtzeitig und großzügig" über die Bühne gehen. Also brachte sein Kabinett das umstrittene Paragraphenwerk auf den Weg. Um es sich nicht mit den Rentnern zu verscherzen, stimmte die Opposition im Bundestag zähneknirschend zu. Der Kanzler gewann die absolute Mehrheit, und die Deutschen hatten ein neues Rentensystem.

Wenn Sie und die CDU den Mut hätten, einen wirklichen Kurswechsel in der Steuer- Finanz- u. Sozialpolitik einzuleiten, der die Soziale Schieflage in unserem Land einigermaßen wieder in eine vernünftige Balance zwischen Armen und Reichen bringen würde, wäre der Machtwechsel vorprogrammiert.

Wir brauchen einen Wechsel in der von der Bundesregierung, mit Ihrer Unterstützung eingeschlagenen Politik.
Dies nicht nur zur Sicherung des Sozialstaates und zur Wiederherstellung der sozialen Gerechtigkeit, sondern insbesonders für mehr Wachstum und Beschäftigung.
Die erfolglose Politik und "Flickschusterei" mit immer neuen "Reförmchen" fortzusetzen, ist verantwortungslos.

Blatt 3 zum Brief vom 8.10.2003 an Frau Dr. Angela Merkel

Neoliberale Sprüche wie:
Mehr Markt- weniger Staat
Ungleichheit fördert Wachstum u. Beschäftigung
Der Marktmechanismus löst alle Probleme usw.
werden von Lobbyisten wie eine Heilslehre täglich tausendfach verkauft, Deregulierung, Liberalisierung, Privatisierung und Globalisierung sind die Schlagworte dieser wirtschaftlichen Philosophie, die uns in die Krise stürzt.
"Jammerlappen in Nadelstreifen" oder sogenannte Unternehmenslenker suggerieren uns täglich, dass alles besser wird, wenn wir nur länger Arbeiten ( für weniger Geld natürlich)!
Sie selbst haben das Ende der Bescheidenheit ausgerufen, sie kassieren ungeniert Millionengehälter- einige auch dann, wenn sie das Geld ihrer Aktionäre kräftig vernichtet haben. Wenn sie das sinkende Schiff verlassen, nehmen sie noch Abfindungen und Anerkennungsprämien, ebenfalls in Millionenhöhe, mit.
Das Schlimme ist, dass Sie und die Mehrheit der Politiker diesen "Scharlatanen" auf den "Leim" gehen und nicht sensibel genug sind, wenigstens ein "Ohr" für die große Masse der Bevölkerung aufzumachen, um deren Sorgen anzuhören, um dann die anstehenden Entscheidungen daran auszurichten.
Der sozialpolitische Kahlschlag, wie er jetzt von der Bundesregierung, zum Teil in Abstimmung mit der Union, eingeläutet wird, zeigt mir ganz deutlich, dass für den Erhalt von Privilegien einer kleinen Schicht weit mehr getan wird als für die " Breite Masse" der Bevölkerung Deutschlands.
Die geplanten "sozialpolitischen Todsünden" dürfen weder in der Form der "Agenda 2010" noch in der Form des "Herzog Berichts" umgesetzt werden.
Die Gesetzentwürfe: Modernisierung des Arbeitsmarktes, Rentenreform, Gesundheitsreform, die Initiativen zur Aushöhlung der Tarifautonomie, Aufhebung des Altersteilzeitgesetzes, Einschränkung des Kündigungsschutzes, Verschlechterung des Betriebsverfassungsgesetzes und all den anderen sozialpolitischen Fehlentscheidungen sind der Auftakt zu einem Begräbnis "Erster Klasse" für einen Sozialstaat, um den uns viele Länder beneidet haben.
Sehr geehrte Frau Dr. Merkel,
mit diesem Brief habe ich mir den Frust von der Seele geschrieben.
Nehmen sie mir bitte ab, dass ich diese Zeilen aus Sorge um unseren Sozialstaat geschrieben habe. Ich will ganz einfach, dass die Verantwortung für diesen Staat wieder die Angelegenheit von allen wird. Dies ist kein Sozialneid sondern eine gesellschaftspolitische Aufgabe.
Mein Wollen ist, dass die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich gestoppt wird und das Thema "soziale Gerechtigkeit" wieder in den Mittelpunkt gestellt wird. Die Lasten müssen auf mehr und insbesondere auf breitere Schultern verteilt werden.
Sie wissen selbst, bei dem Thema Verteilungsgerechtigkeit geht es nicht nur um Geld, die Verteilung von Einkommen und Vermögen bedeutet immer auch die Zuteilung von Lebenschancen.
Bitte geben sie auch den Schwachen dieser Gesellschaft eine Chance.
Mit freundlichen Grüßen

Felix Schlindwein

PS. Eine Kopie dieses Schreibens werde ich per eMail auch an Ihre Parteikollegen:
Karl- Josef Laumann, Gerald Weiß und Hermann-Josef Arentz schicken.

Letzte Änderung: 21.11.2007